Samstag, 30. April 2016

800 Millionen

In jedem Restaurant muss nunmehr ein Fernseher angebracht werden, der Live-Bilder aus den ärmsten Regionen der Welt überträgt. Die Speisekarte in der Hand, das hungernde Kind auf dem Bildschirm an der Wand - eine Massnahme, die sicherstellen soll, dass wir das Elend in der Welt nicht vergessen.
Ein neues Gesetz dieser Art gibt es natürlich nicht. Und dennoch existiert diese andere Welt. Während wir uns die Bäuche vollschlagen, hungern auf diesem Planeten 800 Millionen Menschen.
Link Quelle: http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-05/welthunger-bericht-un-2015-rom
Nicht unsere Schuld? Darüber kann man trefflich streiten. Aber ist die Frage nach der Verantwortung überhaupt so entscheidend? Seien wir doch ehrlich: Unseren Wohlstand können wir nur unbeschwert geniessen, weil wir eben nicht im gleichen Moment sehen, wie es den Ärmsten dieser Welt geht. Die Spannung zwischen beiden Welten könnten wir nicht ertragen. Einem hungernden Kind in die Augen schauen und gleichzeitig einen Happen von der Lachstranche nehmen – schwierig. Sehr schwierig.
Immerhin, die Anzahl der hungernden Menschen auf dem Planeten Erde ist seit 1990 um 200 Millionen zurückgegangen. 20 Prozent in 25 Jahren - ein Grund stolz zu sein oder ein eher beschämender Wert?
Wir müssen auch diese Debatte nicht führen, um zu wissen, was zu tun ist. Denn selbst die unter uns, die das Elend der Welt ganz gut ausblenden können, realisieren zunehmend, dass, wenn wir hier nicht schneller Fortschritte machen, viele weitere Menschen ihren Weg nach Europa finden – zu Fuss, mit den Schlauchboot, wie auch immer. In unserem ureigenen Interesse beginnen wir also besser früher als später, ernsthaft darüber nachzudenken, wie wir das Elend auf dieser Welt effektiver bekämpfen.
An der Wurzel packen wir das Problem nur, wenn wir die Lebensbedingungen in den sogenannten Herkunftsländern verbessern – ein Satz, den man dieser Tage häufig hört. Dabei bleibt es aber auch. Ein wirklicher Diskurs bleibt aus. Was können wir tun? Vielleicht stellen wir uns dieser Frage darum nicht konsequent, weil wir ahnen, dass die Antwort unbequem sein könnte. Seien wir unbequem und wagen hier einmal einen Versuch.
Nachhaltiger Wohlstand entsteht dort, wo Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine funktionierende Ökonomie entstehen lassen. Die wirtschaftlich erfolgreichen Regionen sind durchaus sehr unterschiedlich ausgestattet mit Ressourcen. Saudi-Arabien mag seinen Wohlstand auf Erdöl begründen. Aber was hatte Singapur, was hatten die Schweiz und Deutschland damals? Diese Länder sind eine Wohlstands-Erfolgsgeschichte, weil sie Rahmenbedingungen schafften, in denen man erfolgreich wirtschaften konnte. Ein verlässliches Rechtssystem, verbriefte Eigentumsrechte, etc. – fundamentale Spielregeln eben, die ein Wirtschaften untereinander ermöglichen.
Es gibt eindrucksvolle Bespiele von Ländern, die trotz widrigen Umständen einen beachtlichen Wohlstand erreicht haben. Ausschlaggebend war durchgängig das Schaffen besagter Rahmenbedingungen. Das ist natürlich zuallererst eine nationale Aufgabe. Doch wir könnten einen wesentlichen Beitrag leisten. Und wir dürfen es den armen Regionen nicht noch extra schwer machen.
Zwei fundamentale Massnahmen würden der Förderung weltweiten Wohlstands enorm helfen. Wir haben die Kontrolle über diese beiden Massnahmen. Wir können entscheiden, ob wir hier handeln wollen. Es gibt also keine Ausrede. Hier sind sie:

1. Wahrhaft fairer Handel

In der Zeit des Kolonialismus dominierte Europa die Welt und griff für den eigenen Wohlstand Ressourcen aus der ganzen Welt ab. Europa spielte seine Dominanz aus.
Diese Zeiten sind vorbei, könnte man denken. Und in dieser Form sind sie es. Doch wir nutzen unseren Machtvorsprung weiter mit unfairen Mitteln. Heute importieren wir nicht mehr Gold und Gewürze. Stattdessen gestalten wir Handelsströme zu unserem Vorteil – eine Art moderner Kolonialismus.
Wir verkaufen Autos, Industriegüter, Chemieprodukte und Pharmazeutika rund um den Erdball. Unser Wohlstand beruht wesentlich auf dieser Exportleistung. Bei vielen Produkten haben wir einen entscheidenden Fähigkeitenvorsprung. Der daraus entstehende Wohlstand ist wohlverdient und sei uns durchaus vergönnt. Er beruht auf einer Leistung, die honoriert werden darf.

Gleichzeitig aber tun wir etwas sehr Hässliches. Dort, wo wir nicht wettbewerbsfähig sind, denken wir uns Zollbarrieren und Importbeschränkungen aus, mit denen wir unsere Heimmärkte für fremde Waren blockieren. Wer einen kleinen Geschmack erhalten möchte von den grotesken Ausprägungen, die dieses Handeln annehmen kann, der lese in Wikipedia über die „Verordnung (EG) Nr.2257/94“, die regelt, wie Bananen zu sein haben, die in der EU veräussert werden dürfen. Ein sehr amüsantes Schweizer Beispiel wiederum lieferte der ehemalige Bundesrat Merz bei seinem Vortrag über Importbarrieren für gewürztes FleischDiese Regelungen wirken so grotesk, dass man sie kaum ernst nehmen kann. Für den Kleinbauern aus Namibia, der sein Rindfleisch bei uns verkaufen will, oder dem mittelständischen Stahlproduzenten in Indien sind sie allerdings bittere Realität.
Nehmen wir das Beispiel des Bauern mit seinem Rindfleisch. Er wäre bei uns vermutlich sehr wettbewerbsfähig. Sein Fleisch ist schmackhafter, mehr „bio“ und dennoch günstiger. Sie wissen aber, was passiert. Wir markieren das Fleisch nicht mit einer Herkunftsbezeichnung und lassen es im Regal im Supermarkt in den direkten Wettbewerb treten und den Konsumenten entscheiden. Stattdessen heben wir den Preis des Fleisches vom namibischen Bauern durch Zolltarife künstlich an. Der Wettbewerbsvorteil wird eliminiert. Das auf Basis des Zolltarifs eingenommene Geld bekommt dann nicht der Bauer, dessen Eigentum hier ja zum Verkauf kommt, sondern es geht ins Staatssäckel des Landes, in das importiert wird - eine Logik, die sich nicht erschliessen will. Im Grunde ist das moderne Wegelagerei, staatlich sanktioniert und darum erlaubt.
Während wir mit unseren Exporten den hiesigen Wohlstand mehren, erlauben wir in den Produktkategorien, in denen andere Länder uns gegenüber einen Vorteil hätten, keinen fairen Wettbewerb. Würden wir Rahmenbedingungen schaffen, die einen solchen fairen Wettbewerb in beide Richtungen ermöglichen, hätten die aufstrebenden Länder dieser Welt eine deutlich bessere Chance.
Die Globalisierung ist der mit Abstand grösste Wohlstandsförderer, auch und gerade für die ärmeren Länder dieser Welt. Wer den Menschen dieser Regionen helfen will, sollte aufhören, Grosskonzerne in den Mittelpunkt dieser Diskussion zu stellen, nur weil sie sich so herrlich als Feindbild eignen (aber im Gesamten eigentlich keine wesentliche Rolle spielen), sondern vielmehr fokussieren auf die vielen kleinen und mittelgrossen Betriebe rund um die Welt, deren Chancen auf internationalen Absatz durch unfaire Zoll- und sonstige Importbarrieren zerstört werden. Es ist nichts anderes, als dass wir unsere Machtposition ausspielen, um Jobs zu retten, die es hier eigentlich gar nicht mehr geben würde. Wir sollten da aktiv sein, wo wir wettbewerbsfähig sind, und anderen eine Chance geben, wo sie es sind. Alles andere ist nicht fair. Moderner Kolonialismus eben. Das muss aufhören.

2. Ausbeuterische Regime
Selbst wenn mehr Wertschöpfung durch freien Handel entsteht, führt dies nicht zwangsläufig zu einer Deckung von Grundbedürfnissen in der breiten Bevölkerung. Das geschieht nur, wenn parallel die Verteilung des Wohlstands in der Bevölkerung sichergestellt wird. In unseren Demokratien ist das ein etablierter Prozess mit zwei Lagern, die jeweils eine wichtige Aufgabe haben:
  • Fokus der wirtschaftspolitisch Rechten ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Kuchen grösser wird
  • Die wirtschaftspolitisch Linke wiederum sorgt dafür, dass der Kuchen gerecht verteilt wird
Ist das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Lagern gut austariert, entsteht Wachstum und Wohlstand in einer Gesellschaft. Das passiert typischerweise ganz gut in einer funktionierenden Demokratie.
Nun sind nicht alle Länder heute schon in der Lage, eine lupenreine Demokratie zu werden. Und das Aufstülpen demokratischer Prozesse, wenn ein Volk eigentlich noch nicht in der Lage ist, diese zu leben, ist ja in Ländern wie dem Irak trefflich gescheitert. Wir müssen also wohl oder übel auch mit despotischen Regimen leben. Entscheidend sollte sein, ob diese „Undemokraten“ dabei ihr Volk im grossen Stil ausbeuten oder nicht. Unsere Regierungen im Westen wissen sehr genau, wie es um die einzelnen Länder steht und wer die bösen Buben sind. Wir sollten hier, auch wenn es zu unserem Nachteil ist, eine klare Linie ziehen. Welche Regierungsform ein Land hat, sei einem Land durchaus überlassen. China z.B. ist keine Demokratie. Aber es ist eindeutig zu erkennen, dass Wohlstand breite Bevölkerungsschichten erreicht. Verschiedene Staaten, vor allem in Afrika und im Nahen Osten, kennen Staatsoberhäupter an ihrer Spitze, die ihr Volk verarmen lassen, während sie Milliardenbeträge auf Konten in Singapur (Schweiz war einmal) in Sicherheit bringen und sich persönlich bereichern.
Wir haben Möglichkeiten, solche Regime effektiv zu bekämpfen. Wenn die USA es schaffen, auf ein anderes westliches Land wie bei uns in der Schweiz derart Druck auszuüben, dass die lokale Gesetzgebung angepasst und das Bankgeheimnis aufgegeben wird, dann gelingt es doch wohl der Westlichen Welt zusammen, einen Bananenstaat in die Zange zu nehmen. Unsere Politiker sind sehr eifrig, Schwarze Listen von bei den Steuern nicht kooperativen Ländern anzufertigen. Warum erstellen sie nicht mit gleichem Einsatz Schwarzen Listen ausbeuterischer Regime? Wir würden die Menschen in diesen Ländern nicht im Stich lassen.
Mir ist bewusst, dass ich hier fundamentales Umdenken postuliere. Im linken wie rechten politischen Lager ist Protektionismus derzeit gang und gäbe. Jüngste Tendenzen gehen eher wieder Richtung mehr Abschottung. Mit welcher moralischen Berechtigung tun wir dies?
Wenn jedes Leben auf diesem Planeten gleich viel wert ist, (und wie könnte es anders sein?), müssen wir fairen Wettbewerb ermöglichen. Das Abschotten des eigenen Marktes und sich gleichzeitig als Exportweltmeister feiern lassen – wie geht das zusammen? Wir erzeugen Armut, indem wir den fairen Wettbewerb blockieren. Wir sollten uns dessen bewusst sein, wenn wir gegen den freien Handel wettern.
Das Austrocknen ausbeuterischer Regime ist die vielleicht noch grössere Aufgabe. Viele Interventionen der jüngeren Geschichte, die gut gemeint waren und Menschen ein besseres, gerechteres Leben bescheren sollten, sind in der Tat kläglich gescheitert. Doch das darf nicht dazu führen, dass wir Unrechtsregime nach Belieben schalten und walten lassen. Wir können das besser. Und wir müssen das besser können. Sonst wird das Problem dieser Länder zunehmend zu unserem Problem, wie sich an den aufkommenden Völkerwanderungsbewegungen deutlich zeigt. Ich bin überzeugt, wir waren bisher nur halbherzig am Werk und könnten deutlich mehr erreichen, wenn der Wille nur da ist.

Auch wenn die Bekämpfung dieser Übel grosse Aufgaben sind, man muss sich nur umgekehrt fragen, was passiert, wenn uns das nicht gelingt. Immer mehr Menschen werden sich in Bewegung setzen, völlig verständlich und nachvollziehbar. Denn wir haben den Anspruch auf Wohlstand nicht für uns allein gepachtet. Also sorgen wir dafür, dass alle etwas davon haben, nicht durch Almosen und Umverteilungsphantasien (beides hat noch nie funktioniert), sondern durch das Schaffen günstiger Rahmenbedingungen. Einen wahrhaft fairen Handel ermöglichen und ausbeuterische Regime austrocknen – wir würden deutlich schneller vorankommen, stabile Strukturen würden entstehen, tragfähige ökonomische Systeme. Das wäre ein beherzter Kampf gegen das Elend der Welt.  

Rechtliches

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